Es schweigt der lange Wintermantel (Hans-Peter Kunisch Süddeutsche Zeitung, 15.07.2003)


Kapcsolódó könyv:
Glück - Suhrkamp, 2003

 
SZ-Buchbesprechung
Zur Verfügung gestellt von der
Süddeutsche Zeitung, 15.07.2003
Es schweigt der lange Wintermantel

Würde ist mehr wert als Sicherheit: György Konrad findet ein wenig Glück in einer nicht so fiktiven Autobiographie
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Im Kino der Familie Makk waren die linken Logen den jüdischen Bürgern , die rechten den christlichen Herren. „Sie zogen die Hüte, nickten sich mit unterschiedlichen Gefühlen zu, waren ein wenig abgesondert voneinander, dennoch aber im selben Saal. Vor uns saß die Landjugend, und die Zigeunerkinder bekamen Karten für die erste Reihe.” Berettyóújfalu heißt das Dorf, in dem György Konrád aufwächst. Ein gemütlicher Ort, in dem Kleinbürger wie Konráds Vater, als Eisenwarenhändler der reichste Mann am Ort, von ihren Dorfgenossen als Großbürger angesehen wurden.
Im Mai 1944 verändert sich die Lage radikal. Konráds Vater wird nach der Anzeige eines antisemitischen Konditors abgeholt, die Mutter will bei ihm bleiben. Das wird zum Glück der Kinder, von dem Konrád im Titel seines neuen Buchs spricht. Onkel Andor aus Budapest schickt dem elfjährigen György und seiner vierzehnjährigen Schwester Eva eine Einladungskarte. Sie gehen. Nur einen Tag später werden alle im Ort verbliebenen Kinder abgeholt, und keines hat Auschwitz überlebt.
Davon wussten György und Eva nichts. Sie lebten in Budapest und hatten nur Angst. Bis Miklos Horthy, der ebenso opportunistische wie ungeschickte rechtskonservative Reichsverweser, einen seiner Fehler beging. Er wollte den Widerstand gegen die Russen aufgeben, erzählte dies jedoch, so Konrád, nicht seinen eigenen Militärs zuerst, sondern dem deutschen Botschafter. Szálasi, der Führer der rechtsradikalen Pfeilkreuzler, erklärte Horthy für abgesetzt, womit die Judenhetze in Ungarn kurz vor Schluss des erst eigentlich begann. „Glück” ist weniger ein Roman, eher eine nicht allzu fiktive Autobiographie.
Doch gerade im Umgang mit brutaler Gewalt, die er mit dem Stilmittel knapper Sarkasmen zeigt, beweist Konrád literarisches Können: „Die Donau, auf der Eisschollen stromabwärts trieben, mit alten Frauen und kleinen Mädchen vollzuschießen, war eine Kunst der Verzierung, deren Zauber nicht ewig anhielt. ” Konrád setzt das grauenhafte historische Ereignis ohne jeden Pomp in Szene. Auch wenn er die „Blicke der Passanten” schildert. „Nicht ohne Anteilnahme beobachteten sie die zur unteren Uferstraße geführten schweigsamen Wintermäntel.”
Und wieder hatte Konrád Glück. Als Bürgerssohn kam er unter den Schutz des schweizerischen Konsuls Carl Lutz, der, ohne dafür bei seinen Heimatbehörden Begeisterung auszulösen, parallel zu Raoul Wallenberg Juden unterbrachte und ihnen das Leben rettete. „In einer Wohnung im dritten Stock wohnten wir an die achtzig Menschen in zwei Zimmern und einer Diele.” Die Flüchtlinge versteckten sich nicht im Keller: „Würde ist mehr wert als Sicherheit”. Man ging auf die Dachterrasse, auf die jeden Vormittag bei zwanzig Grad Kälte die Januarsonne schien. Konrád verwendet hier ein beinahe Jünger’sches Bild: „Nicht einmal die reichliche Auswahl an willkürlichen Toden konnte die Schönheit der Lichtflut an den verschneiten und vereisten Wintervormittagen trüben.”
Wer genau beobachtet, sieht Momente grotesker Menschlichkeit im Morden. Klara, eine Freundin des jungen György, geht immer wieder verbotenerweise auf die Straße. Sie wird aufgegriffen. Mit anderen soll sie gegenüber der idyllischen Margaretheninsel an der Donau hingerichtet werden. Klara entdeckt dabei eine Tante und stiehlt sich an deren Seite. Mit erhobenen Händen blicken die Todgeweihten zur idyllischen Insel: „Die Tante fiel kopfüber in den, Klara aber wurde von keiner Kugel getroffen. ‚Du hast Glück, dass mein Magazin leer ist‘, sagte der eine mit der Maschinenpistole und lachte ziemlich freundlich: ‚Mach schnell, dass du weg kommst und sei schön brav daheim.‘”
Der Engel grüßt im Dreck
Vom jungen Dichter György selbst entsteht ein makelloses Bild. Von der Betonung des Eisenhändler-Wohlstands bis hin zu Mut- und Geistesgegenwartsproben des jungen Mannes, der einer auf ihn gerichteten Waffe nicht mit Angst, sondern mit einem „neugierigen” Blick begegnet. Doch Konráds leichter Hang zu memoirenhafter Aufschneiderei stört nur unwesentlich. Vor allem im zweiten Teil des Buchs finden sich einprägsame Bilder; etwa von der Zugs- und Busfahrt nach Kriegsende, die den Jungen durch Schnee und Eis, an zerstörten Brücken vorbei nach Berettyóújfalu zurück bringt und mehr als eine Woche dauert.
Am 28. Februar 1945 trifft der Zwölfjährige wieder in seinem Heimatort ein. Ob seine Eltern je zurückkommen werden, weiß noch keiner. Das Haus der Familie ist verwüstet, die Badewanne hat plündernden Soldaten als Toilette gedient, nur ein unhandlicher dreiteiliger Rokoko-Spiegelschrank mit Engelschnitzwerk ragt weiß aus dem Dreck. Der Zwölfjährige schlendert durch den Papiermüll aus alten Schulaufsätzen und schließt mit seiner Jugend ab. Das früher freundliche Verhältnis zu den Einheimischen, die dann bei allen Ausschreitungen zugesehen haben, ist zerstört. Zwar kehren die Eltern im Mai 1945 aus einem österreichischen KZ zurück, doch 1950 wird das wieder aufgenommene Geschäft verstaatlicht, und die Familie zieht nach Budapest.
Konrád bleibt im kommunistischen Ungarn. In großen Zeitabständen besucht er das Dorf, dessen Menschentypen sich nicht verändern. In den siebziger Jahren bietet es das Bild lebensvoller Verwahrlosung: Ein blutbespritzter Metzgergeselle „tänzelt” mit einem halben Schwein über der Schulter in die Küche eines Gasthofs. Fette Seerosen schillern auf dem schlaff herabhängenden Schnurrbart des Dammwärters, der seine Bohnensuppe löffelt. Alles scheint „wie vor vierzig Jahren”. Doch Konrád verweigert noch bei einer späteren offiziellen Ehrung der Gemeinde das idyllisierende Lob des heimgekehrten Sohns. Die Synagoge dient noch immer als Eisenwarenlager, „der Kalló, der Bach, ist zugeschüttet worden, der Garten, in dem wir unter Kirschbäumen Fußball spielten, ist verschwunden, ebenso der Nussbaum vor meinem Fenster. Ja sogar mein Fenster ist verschwunden, sie haben es zugemauert.”
HANS-PETER KUNISCH