Gibt es eine gute Deportation? (Eröffnungsrede, Zentrum Gegen Vertreibungen, Berlin)


Erzwungene Wege – Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts
Ausstellung im Kronprinzenpalais in Berlin

Zentrum Gegen Vertreibungen, Berlin  

Ethnische Säuberung? Allein schon das Wort ist abscheulich. Schmutz wäre, wer vertrieben, wer verschleppt wird? Wünschenswert wäre, ihn verschwinden zu lassen? Die ohne Anführungszeichen erfolgende Übernahme des Wortes Säuberung in den internationalen Sprachgebrauch markiert das zwiespältige Verhältnis der Zuständigen zum Thema.
Warum nicht Deportation? Oder sollte etwa der Abtransport meiner Verwandten und Schulkameraden in die Gaskammer gleichfalls eine ethnische Säuberung gewesen sein? Weil die ethnische „Sauberkeit” ein Wert wäre? Sollte die andere, vielleicht in der Nachbarschaft lebende, Ethnie gar der Schmutz selbst sein? Sollte die Mischehe eine sexuelle Abartigkeit sein?
Das Recht des Menschen auf jenes Territorium, jene Gegend, jene Siedlung, wo er lebt, wo er gelebt hat, wo seine Vorfahren gelebt haben, ist ein elementares und grundlegendes Menschenrecht. Die Räumlichkeit ist die bestimmende Ausdehnung des menschlichen Lebens. Der Raum wird von den anderen bewohnt, der Landschaft, unserer Vergangenheit. Die Erinnerung ist an den Raum gebunden, unsere Vergangenheit und deren Schauplatz hängen zusammen. Die Wegnahme des Schauplatzes ist der Raub meiner Vergangenheit. Die gewaltsame Trennung des Menschen von seinem Wohnort ist halber Mord.
Das Wesentliche ist nicht das Haus, sondern das Leben. Es ist wahr, dass der Mensch ein Wesen ist, das immer wieder einen Neuanfang macht, doch es trifft ebenfalls zu, dass viele zerbrechlicher sind und die Verstümmelung ihrer lokalen Existenz nur schwer überleben. Der Mensch ist eins mit seinen unsichtbaren Wurzelfasern.
Unser Recht auf den Ort, an dem wir geboren worden sind, wo wir leben, ist ein fundamentales und unantastbares. Die Deportation von Menschen oder die mit Drohungen einhergehende Vertreibung von ihrem Wohnort ist ein international zu verfolgendes Verbrechen. Die Zwangsumsiedlung eines Menschen ist nichts anderes, als seinem Körper Wunden beizubringen, Qualen zuzufügen. Erlaubt ist das nicht, möglich dagegen schon, wie die Geschichte der Nationen und Kontinente zeigt.
Wenn die Idee eines homogenen Nationalstaats als Norm Verbreitung findet, wenn die Gleichsetzung von Staat und Nation geschieht, von Staat und Religion, von Staat und Ethnie, dann kann irgendeine Abstraktion (Nation, Staat, Religion, Klasse, Ideologie) Verursacher von Deportationen sein.
Mittel- und Osteuropa, inklusive des Balkans, ist das Land nationaler, ethnischer und religiöser Vermischung. Eine jede Grenzverschiebung verursacht hier Wunden und schneidet in etwas Lebendiges, hier können die Grenzen nur als Schadensbegrenzung ein vernünftiges Ziel sein.
Die Führer verspüren in der Umsetzung der Völker ein besonders einmaliges Wonnegefühl. Auch neue Regierungen erblicken ihre interessantesten Aktivitäten darin, umzusetzen, abzulösen und zu ernennen, die anderen in Marsch zu setzen. Ein solcher Antrieb ist die ethnische Säuberung, mit anderen Worten die Deportation gepaart mit dem Genuss patriotischer Plünderung.
Dass diese Initiativen für die Betroffenen schlecht sind, lässt sich denken. Doch selbst für diejenigen, die mit jenen gemeinsam an einem Ort wohnen, können derartige Maßnahmen nicht gut sein, kamen sie doch bisher irgendwie miteinander zurecht, und nun werden an deren Stelle andere kommen, Neulinge, Wütende, Barbaren. Interessant, dass die ethnische Minderheit dort am meisten verabscheut wird, wo es sie kaum gibt, wo sie unbekannt ist, wo man sie indessen kennt, wo man mit ihr zusammenlebt, dort sind die Empfindungen ausgeglichener.
Dass der Mensch mit Gewalt vertrieben, von dort weggebracht werden kann, wo er lebt, dieser Brauch entspringt jener politischen Paranoia, die mit den Etatismen des zwanzigsten Jahrhunderts einhergegangen ist, namentlich jene Vorstellung, dass der Staat über den einzelnen, über ein Volk verfügen, dass er Menschen umsetzen, zum Militärdienst, Mord und Ermordetwerden verpflichten darf. Die radikale Ausübung nationalen Selbstbestimmungsrechts erfolgt zum Nachteil des Selbstbestimmungsrechts des einzelnen. Der Wert welchen Subjekts ist höher anzusetzen: die Souveränität der Staaten oder die des einzelnen?
Die europäischen Juden sind von der größten ethnischen Säuberung heimgesucht worden, die ihre zirka sechzig- bis siebzigprozentige Vernichtung bedeutete. Ein verwendbarer Parameter, um die Schuld zu messen: Wieviel Prozent der Deportierten sind ermordet worden, wieviele sind infolge der mit der Deportation einhergehenden physischen Prüfungen gestorben, beispielsweise im Verlauf der Todesmärsche?
Ein höheres Interesse, durch das Deportationen zu rechtfertigen wären, gibt es nicht. Kollektive Bestrafung und Verfolgung von Gemeinschaften können weder politisch noch religiös legitimiert werden. Die Bestrafung von Kindern für die Vergehen der Eltern darf nicht zugelasssen werden. Die Bestrafung darf nicht auf die Familie übertragen werden. Selbst die Söhne und Töchter von Massenmördern sind unschuldig. Keinerlei gewaltsame Deportation ist als endgültig abgeschlossen zu betrachten. Jeder Deportierte, unabhängig von seiner nationalen, ethnischen, religiösen Zugehörigkeit, hat ein Recht auf - zumindest moralische - Wiedergutmachung.
Die nazistischen Deportationen können nicht die Aussiedlung der ungarnbürtigen Schwaben legitimieren. Die Tat ist eine ähnliche, nur Täter und Opfer sind andere. Nicht einmal das unbedingt; das für die Zwangsaussiedlung der ungarnbürtigen Schwaben zuständige administrative Personal war im großen und ganzen identisch mit denen, die auch schon die Deportation der Juden abgewickelt hatten.
Die Donauschwaben, die Siebenbürger und die Zipser Sachsen, deutschsprachige nicht-deutsche Staatsbürger, besaßen ein Recht darauf, dort zu leben, wo sie lebten, wo sich ihre Ahnen einst angesiedelt hatten. Wenn sich der freiwillige Waffendienst für das Dritte Reich im nachhinein als strafbare Handlung erwies, war die Zwangsaussiedlung samt Familie keine adäquate Bestrafung.
Reiseziel der deportierten Juden war das Konzentrationslager und mit großer Wahrscheinlichkeit der Tod, das der Volksdeutschen Westdeutschland und Österreich. Trotzdem sind unterwegs viele gestorben. Und auch der Empfang war nicht immer freundlich. Wenn wir alles zurücklassen und uns mit einem Koffer in der Hand auf den Weg machen müssen, dann machen wir etwas Ähnliches durch, und was für Angaben in unserem Personalausweis stehen, tut hierbei nichts zur Sache.
Meist gelingt die Ansiedlung schlecht, der Angesiedelte empfindet das neue Haus nicht als seines, befürchtet, der alte Besitzer könnte zurückkommen, und statt das Haus instandzuhalten, hegt er lieber Groll gegen den vorhergehenden Bewohner.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind mehr als zehn Millionen Volksdeutsche von Osteuropa ausgesiedelt und in den Westen replicas tag heuer abgeschoben worden. Keine Rede von zaghaftem Vorgehen. Unter meinen deutschen Bekannten gibt es mehrere, deren Großeltern im Zuge der Deportation umgekommen sind. In der Nähe eines tschechischen Dorfes sind die Opfer des Gewaltmarsches in ein Massengrab gelangt. Neuerdings will man eine Autobahn gerade dort bauen, wo sich dieses Massengrab befindet. Die Botschaften baten darum, die sterblichen Überreste auf dem nächstliegenden Dorffriedhof beisetzen zu dürfen. Die Selbstverwaltungen haben diesem Ansinnen nicht stattgegeben, indem sie das Argument vorbrachten, man wolle die ethnische Zusammensetzung der auf dem Friedhof zur letzten Ruhe Gebetteten nicht stören.
Seit den sechziger Jahren suchten die Zwangsausgesiedelten ihre alte Heimat als Besucher wieder auf. Ihre Autos, Kleidung und Fotos führten dazu, dass die Zurückgebliebenen dazu neigten, eher sich selbst zu bedauern. Infolge der Deportation sind die für die Zwangsaussiedlung verantwortlichen Staaten ärmer, die Aufnahmeländer, wie beispielsweise Bayern oder Baden-Württemberg, dank den emsigen Fremden dagegen reicher geworden.
Die Nachkommen der Vertriebenen und die deutsche politische Klasse fordern weder das Recht der Rücksiedlung noch finanzielle Entschädigung, sondern lediglich moralische Wiedergutmachung, die Artikulation dessen, dass die Zwangsaussiedlung der Volksdeutschen, die Anwendung des Prinzips der kollektiven Schuld nicht rechtens gewesen sei. Was seitens der ungarischen Regierung nach 1990 akzeptiert worden ist, das wollen die tschechische und die polnische Regierung nicht annehmen.
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