Alltag in Ausnahmefällen (Die Zeit, 1975)


DIE ZEIT
  Alltag in Ausnahmefällen

  Alle reden vom rauheren Wind, der seit zwei Jahren durch Budapests Literatencafes, Filmstudios und Soziologenzirkel fegt; doch zu spüren bekommen haben diesen Wind bisher nur wenige, und das sind die Schüler des marxistischenLiteraturtheoretikersGyörgyLukäcs, der sozialkritische Schriftsteller György Konrad, der Soziologe Ivan Szelenyi, der „Stücklohn"-Autor Haraszti. Im März des vorigen Jahres hatte der milde Pontifex des ungarischen Literaturlebens, György Aczel, seinen Posten als ZK-Sekretär für Kulturpolitik und Erziehung verloren; in diesem März, beim 11. Parteitag der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP), ist er, immerhin, wieder ins Politbüro gewählt worden. Dieser Kompromiß zeigt, daß Parteichef Janos Kadar auch weiterhin der Repression den Dialog vorziehen möchte — allerdings in einer härteren Sprache als bisher.

Denn Kunst und Konsum, Westreisen und Westwaren (von Pariser Parfüms bis zu Büchern von Handke und Wondratschek) haben Budapest seit Ende der sechziger Jahre einigermaßen immun gemacht gegen die sowjetische Strategie der ideologischen Abgrenzung vom Westen. „Die Einschätzung der realen Lage", so hat Kadar gerade vor dem Parteitag gesagt, „bedeutet nicht, daß wir uns damit abfinden oder irgendwelche theoretischen Kompromisse eingehen . . ., aber wir wollen diese Fragen vor allem in ideologischen Diskussionen klären." Seine offene Zwischenbilanz lautet so: „Unser öffentliches Literatur- und Kunstleben ist weltanschaulich und theoretisch noch nicht einheitlich."
Das trifft in der Tat auf Ungarn ganz besonders zu — und dadurch haben es nicht nur die Kulturfunktionäre schwerer, sondern auch diejenigen westlichen Kritiker, die den großen, den eindeutigen Trend suchen. Ungarns wichtige Schriftsteller jedoch sind nicht schematisch aufzuteilen in Regimekritiker, Parteianhänger und Opportunisten. Die Rebellen von einst, die nach dem Aufstand von 1956 zum Teil zu sehr langen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren wie Tibor Dery, Eörsi, Zelk, Zoltan Vas, Karinthy, Veszi — , werden heute wieder geehrt, ihre Arbeiten publiziert.
Eine neue Sprache aber hat in den letzten Jahren eigentlich nur der traditionsreiche ungarische Film gefunden, vom manieriert-choreographischen Mysterienspiel über die ungarischen Bauernrevolten („Roter Psalm") bis zum unerbittlich-präzisen Protokoll einer sozialistischen Brigade („Gegenwart").
Die vollen Budapester Theater wiederum verdienen gut, mit begabten Komödianten in ver-
staubten Stücken unter mittelmäßigen Regisseuren. Auch das ist Budapester Tradition, deren Wurzeln ja in die k. u. k.-Zeit reichen: kein Hof, keine Mäzene, ein zu Kompromissen neigendes Bürgertum — das ungarische Theater hat gelernt, sich erfolgreich an der Oberfäche zu halten, auch im Sozialismus. Die Gegenwart hat auf seinen Bühnen nur seiten Zutritt — und woanders macht man zur Zeit zumindest einen Bogen um sie herum.
So ist die Geschichte das Hauptthema der Literaturhistoriker und vieler Schriftsteller: die nitionale Geschichte Ungarns; Spielraum und Engagement sind in nationalen Fragen größer als in sozialen. Das spüren zuallererst die Erben des bedeutendsten marxistischen Denkers in Ungarn, György Lucacs'. Sie sind seit 1973 aus der Wissenschaft verbannt. Gewiß sind die internitional renommierten Philosophen und Soziologen um Agnes Heller, Maria Markus und den ehemaligen Ministerpräsidenten Hegedues, um Ferenc Feher, Janos Kiss, György Markus und Mihaljy Vajda nicht repräsentativ für den ungarischen Kulturbetrieb. Doch ihr Schicksal ist bezeichnend für den kompromißlosen „Pragmatismus" auch der ungarischen Partei gegenüber denjenigen kritischen Marxisten, die theoretische Alternativen entwickeln.
Konrad soll nun bleiben
Zentrales Thema der Budapester Linken wir die Theorie der bürokratischen Struktur. Doch sie kritisierten auch das ungarische Wirtschaftsmodell und warfen der Parteiführung vor, eine „habsüchtige" Gesellschaft zu fördern, weil sie das der Marktwirtschaft innewohnende Motiv des Profits für die wichtigste Triebkraft einer dynamischen Entwicklung halte. Obwohl die Partei diesen Trend mittlerweile selber kritisiert und korrigiert hat, hat sie die Lukäcs-Schüler deshalb noch vor zwei Jahren als „neulinke Anarchisten" verstoßen. Ihre Untersuchungen, so hieß die Begründung, vermischten die Überbleibsel einer marxistischen Phraseologie mit bourgeoisen soziologischen Theorien. „Heute ist unsere Lage hoffnungslos", resümiert die frühere Lieblingsschülerin von Lukacs, Agnes Heller. „Die Kominformisierung Osteuropas, die Ikonographie der Einheit verdrängt alle Theorie. Selbst konservative Ideologen gibt es immer weniger. Wo aber sogar schon das Bedürfnis nach ideologischer Rechtfertigiung erlischt, da gibt es auch keine Adressaten mehr für wirkliche Reform-Ideen. Wir und unsere Manuskripte haben hier keine Funktion mehr."
Die Lukacs-Schüler, die sich mit Obersetzungsarbeiten finanziell leidlich über Wasser zu halten versuchen, drängen deshalb auch nicht mehr an die Universität zurück, sie ringen auch nicht carura, daß das Publikationsverbot gegen sie aufgehoben werde. Statt dessen wollen sie den wissenschaftlichen Kontakt zur übrigen Welt weiterpflegen können. Deshalb fordern sie — bisher vergeblich — Ausreisevisa (nicht: Auswanderungspässe) und die Erlaubnis, ihre Schriften legal im Ausland zu veröffentlichen. Im vergangenen Jahr akzeptierten sie dafür sogar die Auflage, daß ihre Schriften keine politischen Inhalte haben dürften und frei sein müßten von jeglichen Stellungnahmen gegen die ungarische Führung oder die sozialistischen Länder und deren Beziehungen untereinander. Unter dieser Bedingung, so wurde ihnen versprochen, könne die Agentur „Artisjus" ihre Manuskripte ins Ausland vermitteln. Dodi aus diesem Kompromiß ist nichts geworden. Im November zum Beispiel hatten die Philosophen vier wissenschaftliche Arbeiten eingeschickt; darunter war auch ein Manuskript von Agnes Heller über die Ethik des jungen Lukacs, das schon vor vier Jahren einmal in Belgien gedruckt worden war. A-nfane dieses Jahres kam die Antwort: „Artisjus" sei nicht imstande, die Schriften weiterzulesen.
Insofern kam das Aneebot, das die Kulturfunktionäre kurz vor dem 11. Parteitag dem 41jährigen Schrittsteller Gvörgy Konrad („Der Besucher") machten, reichlich unerwartet. Nachdem die Behörden ihn zunächst gedrängt hatten auszuwandern, versuchen sie ihn nunmehr im Lande zu halten mit dem Versprechen, seinen neuen Roman „Der Stadtbewohner" noch im kommenden August in Ungarn erscheinen zu lassen — also noch ehe er, wie vorgesehen, in der Bundesrepublik (vermutlich bei List) veröffentlicht wird. Konrad, den sogar offizielle Literaturkritiker als einen — im Gegensatz zu Haraszti hervorragenden Schriftsteller respektieren, war im Oktober vergangenen Jahres zusammen mit dem Soziologen Ivan Szelenyi auf offener Straße verhaftet worden. Beide wurden beschuldigt, subversives Material als Samisdat verbreitet zu haben, nämlich ihren theoretischen Essay „Zur Klassenmacht der Intelligenz". Nach sechs Tagen Haft — bei korrekter Behandlung konnten Konrad und Szelenyi wieder gehen; man hatte ihnen nicht nachweisen können, daß auch nur ein Ungar das geheimnisvolle Manuskript gelesen hatte.
Die Behörden legten ihnen freilich die Auswanderung trotzdem nahe, weil „die Fortsetzung ihrer bisherigen Tätigkeit" ja doch bald zu einem Prozeß führen werde. Konrad und Szelenyi hatten daraurhin die Auswanderungspässe beantragt, als die Behörden urplötzlich zurückgepfiffen wurden: Eine Ausbürgerung nach sowjetischem Rezept paßt auch heute noch nicht zum Stil des pragmatischen Nationalkommunisten Janos Kadar. Der Parteichef monierte in einer Rede vor Beamten des Innenministeriums (der entsprechende Passus wurde nicht veröffentlicht), es gehe nicht an, daß die Behörden künstlich Märtyrer züchteten. Das Politbüromitglied György Aczel empfing Konrad und forderte ihn schließlich auf, seine Alternativen zur Auswanderung aufzuschreiben. Konrad verlangte zweierlei: Visa für gelegentliche Reisen in den Westen und die Veröffentlichung seines Romans „Der Stadtbewohner" in Ungarn. Beides ist ihm nun also versprochen worden. Der 36jährige Soziologe Ivan Szelenyi hingegen, der — nach dem ersten Rat der Behörden — immer noch sein Land verlassen will, wartet indessen weiter auf den Auswanderungspaß, bisher vergeblich.
Im Gegensatz zur grundsätzlichen — und deshalb als „antisozialistisch" verschrienen — Systemkritik der Lukäcs-Schüler, im Gegensatz auch zur Sozialkritik von Konrad, Szelenyi und Haraszti durften bisher die Strukturen des sozialistischen Alltags an „Ausnahmefällen" nachgezeichnet werden, und zwar kritischer als in den anderen kommunistischen Ländern. Dtis haben mehrere ungarische Filme getan mit Themen wie dem Zerfall des traditionellen Dorfes, der sinnlosen Beschäftigungstherapie in einem kommunistischen Jugendlager, der Fremdbestimmung von Arbeitern in einem sozialistischen Betrieb — das letzte Thema besonders in Peter Bascos „Gegenwart". Dieser bittere, gleichwohl urkommunistische Film lief, fast unbeachtet, jetzt noch einmal im lärmerfüllten Pressezentrum des 11. Parteitages — um wieviel näher ist er noch immer der Wirklichkeit als die meisten Parteitagsreden!
Allerdings ist der Alltag der jüngeren Generation selten genug das Sujet der erfolgreichen Cineasten. Welche Resonanz der ungarische Film dennoch hat, zeigt sich daran, daß gerade die ehrgeizigsten Theater in Budapest Filme adaptieren und auf die Bühne bringen. So ist Janscos „Roter Psalm" mit großem Erfolg in Laszlo Gyurkos „25. Theater" gelaufen (wohingegen der umgekehrte Weg, nämlich Janesos eben angelaufene Verfilmung von Gyurk6s Theaterstück „Elektra, meine Liebe", nach dem Urteil aller Kritiker in eine Sackgasse geführt hat).
Das „25. Theater" trägt seinen Namen übrigens deswegen, weil es bei seiner Gründung vor ein paar Jahren in Ungarn 24 Bühnen gegeben hat. Es versuchte, zwischen Commedia dell'arte und „Living Theater" neue Wege zu gehen, es wolke sich lösen von der rein literarischen Bindung, „weil das in Ungarn vor allem Franz Molnar bedeutet"; so hat mir Laszlo Gyurko das einmal erklärt. Inzwischen hat dieses Theater einen eigenen Stil gefunden. Es wirkt wie ein voll beladener Thespiskarren, der auf winziger Bühne förmlich auseinanderbricht. Und dennoch: unter die Haut gegangen ist noch keine Inszenierung. Auch in diesem Theater, das bei der Parteiprominenz wohlgelitten ist, fehlt bei aller Bewegung jene Vibration, die sich aus dem Bezug zur Realität entwickelt, mag sie noch so verborgen sein.
Das einzige original ungarische Theater-Ereignis freilich ist mittlerweile zwei Jahre alt, und es war kein künstlerisches, sondern ein nationales: das „Requiem für eine Armee", nach einer Dokumentation von Istvan Nemeskürty über den replika uhren Untergang der 2. Ungarischen Armee am Don-Bogen Anfang 1943. Die Bühnenfassung stammt von Istvan örkeny, der heute zu den großen ungarischen Schriftstellern zählt und der 1943 die Don-Tragödie miterlebt hatte. Das „Requiem" setzt den 150 000 Soldaten ein Denkmal, die der Nationalsozialismus in die Sowjetunion getrieben hatte und die bis zum Erscheinen des „Requiems" namenlose Tote gewesen waren, weil c!e gegen die heutige Brudermacht gekämpft hatten.
Die Partei sorgt auch weiterhin darür, daß das nationale Erbe kein Kümmerdasein im Schatten des proletarischen Internationalismus führt. Immer wieder betont sie, daß gerade im „nationalen Nihilismus" die Wurzeln des Nationalismus lägen. Ihre nationale Toleranz gilt auch für die jüngste Vergangenheit. Im Dezember und im Januar druckte das Zentralorgan der patriotischen Volksfront, „Magyar Nemzet", täglich in Fortsetzungen die Erinnerungen des Altkommunisten Zoltan Vas über seine Rückkehr von Moskau nach Budapest 1944. Vas hatte 1956 an der Seite des später hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy gestanden und war mit ihm in Rumänien interniert. Bis zu den sechziger Jahren galt er deshalb als Unperson; inzwischen findet er als Schriftsteller Anerkennung wie manch anderer mit einem ähnlichen Schicksal. Und es scheint, als ob sich an dieser ungarischen Variante des sozialistischen Patriotimus auch nichts ändern werde.
DIE ZEIT, 1975
15/1975